Jungen weinen nicht
Es gab einst diese Werbung. Ein kleiner Junge in seinem knutschgelben Regenmantel hob im dichten Passantenverkehr einen Regenwurm vom Asphalt auf und rettete ihn somit vor dem sicheren Trampeltod.
In diesem Werbeclip ging es eigentlich um eine Brillenfirma. Aber die Kernbotschaft war unmissverstÀndlich, dass unter all den gestressten Menschen, ein Kind in leuchtend gelber Kleidung einen Wurm entdeckt und ihn rettet. Und zwar ungeachtet, was die erwachsenen und gestressten Menschen um es herum machten. Es war ganz in seiner Welt vertieft, sah nur diesen Regenwurm und wollte ihm Gutes tun. Alles andere hatte es einfach ausgeblendet.
Das, was uns Erwachsenen fehlt, der Blick fĂŒr das Wesentliche â und damit meine ich nicht Geld, Arbeit, Wohlstand -, hat dieser Junge (noch) nicht verloren. Die Liebe zum NĂ€chsten. Und dieser NĂ€chste muss nicht nur ein Mensch sein. Dieser NĂ€chste kann ein Tier sein, eine Blume, ein BaumâŠ
Die Schaufel fĂŒrs Grab
Das, was dieser Junge noch intuitiv in sich trĂ€gt, nĂ€mlich diese ungebrochene Liebe zu allem, wird ihm alsbald aufgrund unserer seit Jahren verankerten Erziehungsmuster abtrainiert. Ihm wird bald eingetrichtert, was gut und was schlecht ist, was er nicht darf und was er unbedingt sollte. Irgendwann weiss er genau, wenn er gute Noten heimbringt, kriegt er etwas Geld fĂŒr seine Spardose. Wenn er hilft Papas Auto zu waschen, darf er am Abend diesen Actionfilm schauen und er wird lernen, immer zu allen freundlich und gut gesinnt zu sein. Was Ăltere ihm auftragen, dies soll er befolgen, denn nur so wird er es in seinem Leben, in seiner Arbeitswelt, einmal weit bringen. Und weinen? Weinen darf ein Junge nie. Dies machen nur MĂ€dchen. Mit diesem gut gefĂŒllten Rucksack wird er in die weite Welt entlassen. Und der Junge denkt sich, ich bin gut vorbereitet, auf das, was kommen mag. Dass er in seinem Rucksack noch eine kleine Schaufel fĂŒr sein eigens errichtetes Grab namens 'Burnout' mittrĂ€gt, weiss er noch nicht.
Und heute?
Dieser Junge im gelben Regenmantel, ist heute ein erwachsener Mann. Gedankenverloren und wie fremdgesteuert hetzt er durch die FussgĂ€ngerzone, nervt sich ob all diesen Menschen. Seine Zeit ist knapp und minutiös verplant. Zwischendurch erledigt er noch diverse Anrufe, wird beinahe von einem Fahrzeug erfasst, da er bei Rot den FussgĂ€ngerstreifen ĂŒberqueren wollte um Zeit zu sparen. Nur flĂŒchtig und ganz fein, aber doch merklich, streift er diesen Jungen da, welcher alleine in der FussgĂ€ngerzone steht. Und ganz fein, aber doch so aufdringlich, merkt der Mann, wie sein Schuh etwas Glitschiges unter sich erdrĂŒckt. Nur kurz hebt er seinen Schuh um sich zu vergewissern.
Und er sah da nicht nur diesen toten Wurm an seinem Schuh hÀngen, nein, er sah auch direkt in die enttÀuschten und weit aufgerissenen Augen des Jungen, welcher eigentlich gerade eben diesen Wurm retten wollte.
Flashback
Eine Art Flashback riss ihn aus all seinen wirren Gedanken, wie ein Film glitt sein ganzes Leben an ihm vorbei, bis er sich selbst wieder vor sich sah als Junge, der ebenso einst einen Wurm retten wollte. Doch wo war der Junge von damals geblieben? Der Junge, der die Welt noch voller MitgefĂŒhl und Liebe sah, der mit allem und jedem so tief verbunden war und sich eins fĂŒhlte mit der Natur? Der Junge, welcher weder ZeitgefĂŒhl besass noch eine Ahnung davon hatte, was es hiess, in der Arbeitswelt bestehen zu mĂŒssen? Wo war er verblieben? TrĂ€nen stiegen in seinen Augen hoch, in ihm, dem harten GeschĂ€ftsmann, er, der eisern war, immer einsatzbereit und belastbar ohne Ende. Wo war dieser Junge geblieben? Mittlerweile liefen seine TrĂ€nen ĂŒbers ganze Gesicht. Es war ihm egal, was andere von ihm dachten, es war ihm gleichgĂŒltig, wenn andere ihn sahen, wie er im Anzug auf einem Stein sass, mitten in einer FussgĂ€ngerzone mit diesem kleinen Jungen im gelben Regenmantel neben sich.
Kinderaugen
Der kleine Junge, der noch mit allem verbunden war, nahm den Mann an der Hand, setzte sich zu ihm und sprach: "Sei nicht traurig, der Wurm hat fĂŒr dich sein Leben geopfert. Nimm die Botschaft, die er dir gegeben hat mit in deinem Herzen und lerne wieder, die Welt mit Kinderaugen zu sehen."